Augengeschichten – Gastbeitrag von Professor Markus Wild
Markus Wild ist Philosophie-Professor an der Universität Basel und beschäftigt sich seit über zehn Jahren mit dem Geist der Tiere. Zu seinen Hauptforschungsgebieten gehört die Tierphilosophie.
23. September 2020
Kürzlich kam mir eine Kindheitserinnerung. Mein Vater rasierte sich im Badezimmer bei offener Tür. Ich hockte mich davor in den Flur und wollte mit meinem Bleistift frech die weisse Wand bekritzeln. Zum Va-ter schielend, um mich zu vergewissern, dass er mir den Rücken zugewandt hatte, setzte ich zur Kritzel-attacke an. Kaum hatte der Stift die Wand berührt, hörte ich eine gebieterische Stimme. «Stopp! Leg das weg!» Ich war wie vom Donner gerührt. Wie konnte er mich gesehen haben? Er meinte lachend, er habe Augen im Hinterkopf. Ich glaube, ich habe ihm das eine Zeitlang wirklich geglaubt.
Das Okavango-Delta befindet sich im südlichen Afrika, in Botswana. Ein wunderschönes Gebiet, reich an Vögeln, Fischen, Büffeln, Gnus, Gazellen, Flusspferden, Grossraubtieren. Seit 2014 ist das Delta UNESCO-Welterbe. Von Menschen ist es zwar wenig besiedelt, doch treiben Farmer Rinderherden durch das Delta. Die Löwen finden darin eine leichte Beute. Stoff für Konflikte.
Natürlich könnte man sagen, dass solche Konflikte nicht existierten, wenn die Menschen Tiere nicht als Nutztiere hielten und Nutztiere nicht in Naturgebiete trieben. Dafür sprechen aus meiner Sicht sehr gute Gründe. Die rücksichtslose Zerstörung von grossen Naturgebieten durch die Agrarindustrie führt dazu, dass Tierarten verschwinden, dass die Klimaerwärmung weiter angeheizt wird, dass geradezu Brutstätten für Epidemien entstehen. Dies trifft jedoch nicht auf die Rinder im Okavango-Delta zu. Ausserdem würde es den betroffenen Farmern, anders als in Mitteleuropa oder Nordamerika, sehr schwerfallen, Alternativen für ihren Lebensunterhalt zu finden. Es besteht also ein Konflikt zwischen den Interessen der Arterhaltung und den Interessen der Farmer. Löwen abzuschiessen ist dabei für alle Beteiligten ebenso wenig eine Option wie die Errichtung langer Zäune.
Eine Gruppe von australischen Wissenschaftlern malte in Zusammenarbeit mit den Farmern und Artenschützern Hunderten Rindern gut sichtbare Augen auf die Pobacken. Anderen wurden grosse X aufgetragen, und wiederum andere blieben hintenrum unbemalt. Die Idee dahinter ist einfach. Löwen schleichen sich an ihre Beute heran, um unentdeckt zu bleiben. Sehen sie sich von Augen angeschaut, wähnen sie sich entdeckt und brechen die Jagd ab. Nach vier Jahren hat sich gezeigt, dass Rinder mit Augen auf dem Hinterteil weitaus seltener Opfer von Löwenattacken werden als unbemalte Tiere. Aber auch die grossen X zeigen eine gewisse Wirkung.
Natürlich fand ich bald heraus, dass mein Vater mit seinem Hinterkopf nicht sehen kann, sondern den Spiegel benutzt hatte. Ebenso würden die Löwen mit der Zeit herausfinden, dass die Augen nur Mimikry sind, wenn stets sämtliche Rinder bemalt würden. Man könnte weniger wertvolle Rinder unbemalt lassen, was ethisch fragwürdig wäre. Besser wäre es, ein wechselndes Arsenal von Augen aufzumalen. Natürlich sind die Hinterbacken-Augen nicht die Allzwecklösung für den Konflikt, es braucht weitere phantasievolle Ideen. Auch technische Hilfsmittel dürfen ausprobiert werden. So könnte man Drohnen einsetzen, um die Kuhherden zu überwachen und Löwen zu verscheuchen.
Warum ich das erzähle? Beim Lesen der Augengeschichte dachte ich, dass die meisten Schweizer Bauern im Alpgebiet immer noch nicht weiter sind als ich als vollkommen verdutzter Bub auf dem Boden, wenn es um die Wölfe geht (oder, wie man seltsamerweise sagt, «um den Wolf»). Es wird Zeit, dass sie sich von ihren schlechten Ratgebern in Wirtschaft und Politik emanzipieren und mit eigenen Augen zu sehen anfangen – vorzugsweise mit jenen vorne im Kopf.