"If you want your Storys to end happy, try being niser" – Gastbeitrag von Professor Markus Wild

 

Markus Wild ist Philosophie-Professor an der Universität Basel und beschäftigt sich seit über zehn Jahren mit dem Geist der Tiere. Zu seinen Hauptforschungsgebieten gehört die Tierphilosophie.

10. Dezember 2021

Kennen Sie Ernst Anschütz? Er ist der bekannteste unbekannte Dichter im deutschsprachigen Raum. "Oh Tannenbaum" stammt von ihm. 1824 veröffentlichte Anschütz unter dem Titel "Warnung" ein Lied, das einem Räuber droht, ihm werde mit der Schrotflinte der Garaus gemacht, sollte er das gestohlene Geflügel nicht schleunigst retournieren. Versöhnlich wird ihm angeboten, er könne ja stattdessen "mit der Maus vorlieb" nehmen. Haben Sie das Lied erkannt? Immerhin war Anschütz so nett, dem Fuchs einen Kompromiss vorzuschlagen: Wenn Du bei Deinen Mäusen bleibst und meine Gänse in Ruhe lässt, passiert Dir nichts. Wie wir wissen, sind wir heute mit Füchsen nicht so kompromissbereit.

Die Wahrheit über uns und den Fuchs finden wir eher in der Geschichte "Fuchs 8" des grossartigen Erzählers George Saunders. Es beginnt naiv wie ein Kinderbuch. Fuchs Nr. 8 findet uns interessant, versteht uns aber nicht. Er lernt unbeholfen, aber beflissen unsere Sprache. Er versteht uns immer noch nicht (aber anders nicht). Der Wald verschwindet zusehends, die Füchse leben in der Agglomeration. Schliesslich erlebt Fuchs 8, wie sein Freund Fuchs 7 auf einem Supermarktparkplatz ebenso gleichgültig wie brutal erschlagen wird. Vor vielen Jahren habe ich im Wallis einen jungen Koch kennengelernt, der mir stolz einen in eine hellrot schimmernde Plastikfolie eingehüllten Fuchswelpen in seinem Kofferraum zeigte. Er habe ihn heute morgen überfahren, die anderen beiden leider verfehlt. Die Geschichte erzählt von unserem Umgang mit der Natur. In seinem Brief an die "Yumans" rät Fuchs 8: "If you want your Storys to end happy, try being niser."

Bei Saunders klingt etwas an, woran Anschütz 200 Jahre zuvor niemals gedacht hätte. Füchse leben heute nicht nur auf dem Land, wo sie Mäuse fangen, von Jägern erschossen oder von jungen Männern angefahren werden. Füchse leben seit Jahrzehnten in Agglomerationen, Städten und Grossstädten. Weltweit leben heute über die Hälfte der Menschen in Städten, in 20 Jahren werden es vermutlich zwei Drittel sein. Für viele Tiere und Pflanzen ist das eine Katastrophe. Andere hingegen passen sich recht gut an die neue Umwelt an, und zwar buchstäblich. Stadtfüchse haben kürzere Schnauzen und kleinere Schädel. Männchen und Weibchen unterscheiden sich weniger stark als bei Landfüchsen. Stadtspatzen haben gelernt, stärkehaltige Lebensmittel zu verdauen. Nachtigallen singen lauter in Berlin. Dem Stadtfuchs folgt der Stadtdachs auf dem Fuss. Der Stadtfuchs sieht nicht nur anders aus, er verhält sich auch anders als seine Landverwandtschaft. Er ist weniger scheu, lässt sich durch Lärm und Unruhe weniger stressen und lernt mit dem Verkehr umzugehen.

Kürzlich sagte mir jemand, der Fuchs verliere in der Stadt seine "natürliche Scheu", deshalb werde er "aggressiv". Das ist doppelt falsch. Der Landfuchs ist nicht das Natürliche und der Stadtfuchs das Unnatürliche, sondern ein Teil der Füchse passt sich biologisch an eine immer urbanere Welt an. Zudem ist der Fuchs nicht aggressiv, weil er die Scheu verliert. Der Stadtfuchs ist entspannt, weil er sich Scheu in der neuen Umwelt nicht leisten kann. Aggressiv machen ihn höchstens Menschen, die ihn füttern oder bedrohen oder beides. In den Städten werden immer mehr Wildtiere leben, durch die Urbanisierung werden immer mehr Wildtiere in Bedrängnis geraten. Beides müssen wir bei der Planung einplanen. Wenn wir wollen, dass diese Entwicklung gut endet, sollten wir auf Fuchs 8 hören: "Versuch nätter zu sein."