Selbstzweifel – Gastbeitrag von Professor Markus Wild
Markus Wild ist Philosophie-Professor an der Universität Basel und beschäftigt sich seit über zehn Jahren mit dem Geist der Tiere. Zu seinen Hauptforschungsgebieten gehört die Tierphilosophie.
30. September 2021
Manchmal habe ich den Eindruck, dass keine Veranstaltung mehr ohne Tiere auskommt. Es ist Anfang September. Schöne Septembertage, wie ich sie mag, mit milder Wärme, Licht und Wind. Als ich Ende der 1970er-, Anfang der 1980er-Jahre ein Bub war, erlebte ich um diese Jahreszeit Alpabfahrten, Bauernmärkte boten Jungtiere feil, wir holten den letzten Schnitt für die Schafe ein und begannen mit den Vorbereitungen der "Metzgete" im Landgasthof.
Die Tiere waren fest in den Jahresablauf und in die ländliche Kultur eingebettet. Ich stand mittendrin, so nahe an den Vorgängen, dass ich nicht merkte, worin deren Gemeinsamkeit bestand: Alle diese Tiere waren dazu da, von uns besessen, genutzt und letztlich getötet zu werden. Hin und wieder merkte ich es, etwa wenn ein Tier ausscherte, ein anderes mehr schlecht als recht erschlagen wurde oder wenn mich die Grobheit von Menschen einschüchterte, die mit dem Leben von Tieren ihr Leben bestritten. Doch das Merken wird durch die Normalität häufig im Keim erstickt. Vielleicht war meine Freude an den Fuchsspuren der Ausdruck davon, dass ich an einer mir noch nicht zugänglichen Stelle glaubte, Tiere hätten ein anderes Leben verdient?
Ich empfinde keine Nostalgie, wenn ich an diese Zeit denke. Der Umgang mit Tieren war sicher nicht so herzlos und profitorientiert wie in der Massentierhaltung. Doch am Ende gibt es keinen wirklichen Unterschied. Heute stehe ich nicht mehr mittendrin, sondern bin aus diesen Abläufen herausgetreten, ich lasse mir das Merken nicht mehr durch die wahnsinnige Normalität ersticken, ich kenne die Stelle nun genauer, von der aus wir Tiere mit anderen Augen sehen als mit jenen der Nützlichkeit. Das Schöne ist, dass ich dennoch von Tieren weiterhin umgeben bin.
In Basel haben sich in diesem Jahr vier Museen zusammengetan, um in einer gemeinsamen Ausstellung mit dem Titel "tierisch!" die Beziehung zwischen Mensch und Tier zu beleuchten. Dabei geht es um Kultur, Antike, Pharmazie und Musik. Musik? Nun, Menschen verwenden Federn, Häute, Darmsaiten, Knochen oder Elfenbein, um Instrumente herzustellen. Ich steuere zu diesen Ausstellungen Texte und Gedanken bei und kann so ethische Probleme ins Bewusstsein der Besucherinnen und Besucher bringen. Während des ersten Septemberwochenendes diskutierte ich das Kunstwerk "Babel" von Sandra Knecht, in dem Hühner und Tauben hausen. Den folgenden Tag moderierte ich in Zürich eine Diskussion über Wildtiere in der Stadt und eine zweite über kulturelle Traditionen bei Schimpansen, Walen, Ratten und anderen Tieren.
Ich freue mich, dass ich ein Bild der Tiere vermitteln kann, das sich von dem unterscheidet, in dem ich aufgewachsen bin. Freilich bleibt bei aller Süsse ein bitterer Geschmack, als hätte ich immer noch diese Pusteln um den Mund. Obwohl überall Tiere vorkommen, hat sich der Wahnsinn der Normalität noch viel zu wenig verändert. Vielleicht mache ich ja heute einfach bei einem Überbau mit, der den Unterbau, in dem die Tiere darben, letztlich doch unangetastet lässt?