Mitfühlen und handeln statt ausblenden und ignorieren
Kürzlich bin ich auf einen vielsagenden Comic gestossen. Ein Redner fragt das Publikum: «Who wants change?» Alle heben begeistert die Hand. Auf dem anderen Bild fragt er: «Who wants TO change?» Niemand hebt die Hand. Der Comic trifft einen Nerv und lässt sich trefflich auf unseren Umgang mit Tieren und der Klimakrise beziehen. Kaum jemand würde wohl bestreiten, dass sich etwas Grundlegendes ändern muss. Aber keiner will die Veränderung sein, die er in der Welt sehen will.
Vielleicht hat mich darum die Geschichte von einem jungen Bauern so berührt, der tatsächlich sein Leben radikal geändert hat: Tobias Burren, der sich von der Fleischproduktion verabschiedete, um aus seinem Hof einen Lebenshof zu machen. Der Journalist Christof Gertsch hat diesem mutigen Menschen eine berührende Reportage im «Magazin» des Tages-Anzeigers vom 21. Oktober 2023 gewidmet. «Eines Nachts im Sommer vor einem Jahr stand Tobias Burren im Schlafzimmer seines Bauernhauses in Liebewil, einem Weiler bei Köniz im Kanton Bern, und wiegte sein Baby in den Armen. Alles war ruhig, nur im Stall rief eine Kuh. Es war eigentlich kein Rufen, es war ein Schreien. Sie schrie, das wusste Tobias Burren, nach ihrem Kalb. Er hatte es ihr weggenommen.» So fängt der Text an.
Vom Mitgefühl zur konkreten Handlung
Da ist ein junger Mann, der sein Kind in den Armen hält, und da ist ein Tier, das sein Kalb vermisst und nach ihm ruft – und intuitiv stellt der Bauer die Verbindung her zwischen sich und der Kuh und zwischen seinem Kind und dem Kalb, und die Kuh tut ihm leid. Da passiert eigentlich nichts Spektakuläres. Das Erstaunliche ist, dass der Bauer sich von diesem Erlebnis tatsächlich bewegen lässt, sein Leben zu ändern. Im Grunde kann sich eine solche Szene auch im Supermarkt abspielen, wenn wir vor dem Kühlregal stehen und ein eingeschweisstes Doppelpack Bratwürste kaufen. Wenn wir plötzlich realisieren: Das ist ein Tier, das getötet wurde, damit wir nachher eine Wurst essen können. Aber das Schreien der Mutter um ihr Kalb und die unschönen Szenen, in denen das Kalb geschlachtet wird, sind in diesem Moment ganz weit weg. Tobias Burren hat das Schreien gehört, nicht nur einmal, sondern immer wieder. Aber diesmal war für ihn klar, dass das ein Ende haben muss. Er will und er kann nicht mehr weitermachen wie bisher. Diese spezifische Form der Unmöglichkeit fasziniert mich als Ethiker. Denn eigentlich könnte er ja durchaus einfach weitermachen. Es ist doch ganz normal, das zu tun. Er ist sogar in den Augen vieler ein Spinner, wenn er seinem Gewissen folgt.
Das unsichtbare Leiden der Tiere
Normal ist in unserer Gesellschaft, dass das Leiden der Tiere unsichtbar gemacht wird. Normal ist, auf lautlos zu stellen und wegzuzappen, wenn die Mutter nach ihrem Kalb schreit. Wir sind Meister darin, dem ethischen Anspruch aus dem Weg zu gehen und das Leiden der anderen auf Distanz zu halten. «Das Mitleid aktiviert das Band, das zwischen jedem von uns und den anderen fühlenden Wesen besteht», schreibt die französische Philosophin Corine Pelluchon. Im Mitleid ist mir das andere Wesen ganz nah, egal ob Mensch oder Tier. Aber es ist für uns viel zu einfach, diese leiblich-emotionale Verbundenheit zu verdrängen. Tobias Burren hat hingehört. Er war sensibel genug, das Schreien der Mutter zu hören, und er war mutig genug, den Sprung in die offene Zukunft zu wagen. Unternehmerisch ist das ein Risiko. Es liegt an uns, Menschen wie ihn nicht allein zu lassen. Denn wir wissen doch eigentlich, dass sich etwas ändern muss, nicht wahr?

Der Tierethiker Christoph Ammann ist Mitglied im Stiftungsrat von ProTier. Der Vater von drei Kindern lebt mit seiner Familie in Zürich Witikon, wo er als reformierter Pfarrer arbeitet. Er ist Präsident des «Arbeitskreises Kirche und Tiere» (AKUT) Schweiz.