Nutztiere gibt es nicht

Datum: 28. June 2024
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Ein Hund ist kein Schwein, ein Schwein ist kein Hund. Warum wir Menschen Kategorien für Tiere bilden. Und warum ein Begriff eine grosse Mitschuld daran trägt, dass wir das Individuum im Tier nicht sehen.

Menschen sind kategorisierende Tiere. Sie lieben es, Lebewesen einzuteilen, nicht nur in biologische Arten, sondern in Kategorien wie «Nutztiere», «Haustiere» oder «Wildtiere». Am problematischsten ist dabei wohl die Kategorie «Nutztiere». Ich kann den Begriff nur noch mit Anführungszeichen verwenden. Er suggeriert, dass es Tiere gibt, deren Wesen gewissermassen darin besteht, dass wir sie nutzen. Als wäre dies ihr Daseinszweck. 

Solange der Begriff «Nutztier» floriert, ist das ein sicheres Zeichen dafür, dass wir Menschen uns selbst im Zentrum sehen und davon ausgehen, dass Tiere sich den Interessen des Menschen zu fügen haben. Wir machen vom Recht des Stärkeren Gebrauch: Weil wir Tiere nutzen können, tun wir es auch und fühlen uns dabei im Recht. Dieser reduzierende Blick ist in unserem Verhältnis zu Tieren allgegenwärtig.

Die meisten Menschen hierzulande fänden es abscheulich, Hunde zu essen. Aber Schweine sind für sie auf ganz natürliche Weise «Nutztiere», die dazu da sind, gemästet, geschlachtet und gegessen zu werden. 1,3 Millionen Schweine leben in der Schweiz. Wir bekommen sie kaum je zu Gesicht. Hunde gibt es viel weniger (ca. 540ʼ000), aber sie sind ungleich sichtbarer. Sie gehören als Individuen zur Familie. Schweine bleiben in aller Regel namenlos, unsichtbar, Massenware. Sie begegnen uns primär als Wurstwaren im Supermarkt oder als Kotelett auf dem Teller.

Dass Schweine hochgradig intelligente, soziale und sensible Tiere sind, wird ausgeblendet. Es ist so normal, sie zu nutzen, wie es abnormal wäre, Gleiches mit einem Hund zu tun. Um dieses Phänomen zu erklären, hat die amerikanische Psychologin Melanie Joy den Ausdruck «Karnismus» geprägt. Sie meint damit das unsichtbare Netz von kulturellen Normen und Praktiken, das es uns ermöglicht, in einem Kälblein oder einem Ferkel eben kein Tierindividuum zu sehen, das sein eigenes gutes Leben leben will, in einem Hundewelpen dagegen ein herziges «Tierli», das man einfach gern haben muss.

«Dass Schweine hochgradig intelligente, soziale und sensible Tiere  sind, wird ausgeblendet.» CHRISTOPH AMMANN 

Natürlich wird die Welt nicht automatisch besser und gewaltfreier, wenn wir «Nutztier» aus unserem Vokabular streichen. Aber es wäre ein Zeichen gestiegener Sensibilität, wenn wir den Begriff möglichst vermeiden würden. Er überdeckt nämlich das ungeheure Leid und Unrecht, das Tieren dadurch angetan wird, dass sie auf ihren Wert für Menschen reduziert werden. Ihre Würde besteht gerade darin, dass sie mehr sind als das, was Menschen in ihnen sehen.

Der Tierethiker Christoph Ammann ist Mitglied im Stiftungsrat von ProTier. Der Vater von drei Kindern lebt mit seiner Familie in Zürich Witikon, wo er als reformierter Pfarrer arbeitet. Er ist Präsident des «Arbeitskreises Kirche und Tiere» (AKUT) Schweiz.