Weihnachtsgans auf der Flucht

Datum: 29. November 2024
Autor:

Fühlen wir mit einem Tier mit, wenn es Hauptdarsteller in einem Bild ist? Gehört an Weihnachten wirklich ein gutes Stück Fleisch auf den Tisch?

«Vor dem Fest» heisst ein Bild des deutschen Malers Michael Sowa, der in seinen Bildern immer wieder auf hintergründige Weise das Verhältnis von Mensch und Tier beleuchtet. Man sieht eine karge Winterlandschaft, ein Haus, kahle Bäume, einen Strommast – und ganz klein, als heimliche Hauptdarstellerin, eine Gans. Sie hat es eilig, das sieht man ihren grossen Schritten an. Dem Bildtitel nach muss es sich um eine Weihnachtsgans handeln. Hat sie etwas davon geahnt, dass sie als Festschmaus gedacht war? Ist sie durch das offene Fenster entwichen? Hat sie, während die Bewohner:innen mit dem Schmücken des Christbaums und dem Einpacken der Geschenke beschäftigt waren, die Gelegenheit zur Flucht beim Schopf gepackt? Jedenfalls bewegt sie sich weg von diesem Haus, und man meint, so etwas wie Verzweiflung in ihren Bewegungen zu sehen.

Ich weiss nicht, wie verbreitet hier in der Schweiz der Brauch der Weihnachtsgans noch ist. Aber sicher wird vielerorts ein «gutes Stück Fleisch» auf den Teller kommen. Viel Fest, viel Fleisch. Was für Menschen ein Fest ist, ist für Tiere oft gar kein Grund zum Feiern. Das gilt für das Feuerwerk an Silvester und es gilt auch für «Nutztiere» wie diese Gans. Kein Ostern ohne Massen von Eiern und Osterlämmern, kein Fest der Liebe ohne Braten. Wenn Tiere könnten, würden sie davonlaufen wie diese Gans.

Sowas Bild lädt dazu ein, unsere vermeintlich «normalen» Zustände einmal aus der Sicht der Gans zu betrachten. Unweigerlich nämlich identifizieren wir uns mit ihr. Wie magisch zieht sie unsere Aufmerksamkeit auf sich. Nur schon die Tatsache, dass ein Tier es wert ist, in dieser Weise Hauptdarsteller eines Bilds zu sein, ist bemerkenswert.

«Bei Michael Sowa spielen Tiere, anders als in der Realität, oft die Hauptrolle.»

Millionenfach werden Gänse an Weihnachten mehr oder weniger gedankenlos zu blossen Requisiten des Fests gemacht. Hier sehen wir nur eine einzelne Gans. Es ist schwierig, Mitgefühl mit einer Masse zu entwickeln. Aber wenn aus einer Masse Einzelne mit einem Gesicht werden, ändert sich alles. Vielleicht lässt uns dieses wundersame Bild mit dieser einen Gans nachdenken: über den Sinn von Weihnachten, aber auch über die Kehrseiten unseres Konsums.

Der Tierethiker Christoph Ammann ist Mitglied im Stiftungsrat von ProTier. Der Vater von drei Kindern lebt mit seiner Familie in Zürich Witikon, wo er als reformierter Pfarrer arbeitet. Er ist Präsident des «Arbeitskreises Kirche und Tiere» (AKUT) Schweiz.